Staub
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Staub. Er ist überall und allgegenwärtig. Ein Konglomerat feinster Partikel, das sich in Bewegung setzt, sobald die Dinge zur Ruhe kommen. Er wird bekämpft und beseitigt und kehrt noch im Verschwinden zurück. Ein Sysiphus, wer sich mit ihm anlegt. Staub nistet in Teppichböden und auf Dachstühlen. Er dringt in Laboratorien ein und legt sich auf Kunstwerke. Er wird von Fabrikschloten in die Luft geblasen und wohnt in jedem Regentropfen. Staub macht krank, Staub macht den Kosmos. Er ist das kleinste, noch unmittelbar sichtbare Objekt, von dem ein Film handeln kann.
Hartmut Bitomsky geht den Weg des Staubs. Assoziativ und in sinfonischen Bewegungen folgt er ihm an Orte, wo er siedelt, und sucht Menschen auf, die sich mit ihm auseinandersetzen. Putzkolonnen in ihrem täglichen Kampf um Sauberkeit, Erfinder von Luftreinigungsfabrikaten, Wissenschaftler, welche die schädlichen Folgen von Feinstaub und uranhaltiger Munition aus den US-Waffenbeständen untersuchen, Botaniker, Meteorologen, Astronomen und Künstler. Eine Kultur des Staubs scheint auf, in ihrer konkreten Phänomenologie, als Projekt der Wahrnehmung und Schnittmenge anthropologischer und philosophischer Erkenntnisse. Staub markiert eine Grenze, an der wir gerade noch erfahren können, wer wir sind und wo wir herkommen, was wir tun und was aus uns werden kann oder soll. Die Beschäftigung mit ihm kommt niemals zu einem Ende.
Staub verschwindet nicht.
Über den Film
Ein Staubpartikel hat einen Durchmesser von einem Zehntel Millimeter. Nur mit Mühe kann es noch vom menschlichen Auge wahrgenommen werden.
Staub ist das kleinste Objekt, von dem ein Film handeln kann.
Seine Präsenz grenzt an das Verschwinden. Seine Präsenz grenzt an die Verzweiflung. Staub ist immer und überall da. In Teppichböden und auf Fabrikbrachen, in Laboratorien und auf Kunstwerken, in der Luft und in der Lunge. Selbst wenn man ihn beseitigt, bleibt ein Rest und wieder ein Rest vom Rest (Raymond Queneau). Doch Staub ist mehr als bloßer Schmutz. Er ist ein wichtiger Informant und gibt uns Hinweise darauf, wer wir sind und wo wir herkommen, was wir tun und was aus uns werden kann oder soll.
Hartmut Bitomsky macht erstmals einen Zehntel Millimeter zum Protagonisten eines Films. Er folgt dem Staub an Orte, wo er kenntlich wird, wo er sich als sichtbare Masse niedergelassen hat oder fast unmerklich im Verborgenen lauert. Er trifft Menschen, die vom Staub in ständiger Bewegung gehalten werden: Putzkolonnen, Wissenschaftler, Erfinder, Künstler, ganze Industriezweige. Bitomskys Blick ist dabei konkret und analytisch zugleich und denkt den Staub auch immer über dessen bloße Oberflächenexistenz hinaus: als Medium der Erkenntnis und Fixpunkt soziokultureller, politischer und philosophischer Überlegungen.
Staub ist zuallererst: unerwünschte Materie.
Er ist ein Problem, ein hygienisches, gesundheitliches, ästhetisches, auch ein militärisches. Wo das Leben zum Stillstand gekommen ist, legt sich der Staub wie Schnee auf die Dinge. Ihn zu entfernen, ist eine Arbeit und ein Geschäft. Putzkräfte machen Büroräume sauber, frühmorgens oder abends, wenn die Angestellten noch schlafen oder schon im Feierabend sind. 100 Quadratmeter pro Stunde werden erwartet, für eine Toilette mit zwei Waschbecken sind maximal zwei Minuten veranschlagt. Ganze Industrien haben sich dem Kampf gegen den Staub verschrieben und warten mit immer ausgetüftelteren Innovationen auf: Ein Produkt verspricht die umfassende Reinigung der Luft in Innenräumen. Das Ideal ist die Freiheit von Staub, doch die Entstaubung kommt nie zu einem Ende.
Jede Sekunde werden Tonnen von Staub produziert. Fabrikemissionen, Hausdemontagen, Steinbrüche. Beim Abbau von Braunkohle etwa werden riesige Staubmengen freigesetzt. Die Partikel steigen hoch in die Atmosphäre und wandern bis zu 4000 Kilometer weit. Wird die Kohle im Kraftwerk für die Stromerzeugung verbrannt, entsteht Feinstaub, ein Gemisch aus ultrafeinen Stoffen, die in die Blutbahn gelangen und zu Entzündungsreaktionen in der Lunge und Herzschädigungen führen können. Staub macht krank. Beim Abriss des Palastes der Republik, der ein Palast für alle sein sollte, Tagungsort der politischen Elite der DDR und Freizeitzentrum der Bevölkerung, wurde in der alten Bausubstanz Asbest entdeckt. Vor allem die kurzen Fasern dieses staubförmigen Minerals sind in hohem Maße krebserregend. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York klagten Büroangestellte und Anwohner über Kopfschmerzen und Atembeschwerden. Ende 2003 waren mehr als 2000 Feuerwehrmänner arbeitsunfähig, unversichert und ohne jeden Anspruch auf staatliche Hilfen. Im Staub, der aus den Trümmern aufgestiegen war, fanden sich u.a. Rückstände von Glasfasern, Pestiziden, radioaktiven Nukliden, Blei und Arsen. Der ganze Abraum unserer Zivilisation verdampft und pulverisiert zu Staub.
Eine Staubtestanlage. Hier wird untersucht, inwieweit ein Granatwerfer unter extremen Bedingungen wie Sand und großer Hitze noch sein komplette Explosionspotential entwickeln kann. Ein anderes Labor untersucht, in welcher Menge und über welchen Zeitraum ein explodiertes Geschoss Radioaktivität ins Grundwasser abgibt. Die US-Militärs verwenden uranumantelte Projektile, weil sie sich von diesen eine höhere Durchschlagskraft versprechen. Wird Uran verbrannt, entsteht Uranstaub. Im Einsatzgebiet dieser Waffen kamen überdurchschnittlich viele missgebildete Kinder zur Welt.
Staub ist aber auch: Urmaterie. Und macht den Himmel blau.
Wenn Staub auf Staub kollidiert, entstehen Planeten und Galaxien. Ohne Staub gäbe keinen Kosmos, ohne Staub gäbe es keinen Himmel. In jedem Regentropfen wohnt ein Staubkorn. Nur mit einem bestimmten Anteil von Staub in der Luft kann Feuchtigkeit kondensieren und Wolken bilden.
Staub steht am Anfang der Evolution, an ihrem vorläufigen, technologischen Ende der Reinraum. Hier, wo hochsensible Produkte wie Microchips hergestellt werden, ist das Ideal der Staubfreiheit fast erreicht. Die Mitarbeiter sind bis zur Unkenntlichkeit verhüllt, und doch sind sie es allein, welche die absolute Sterilität noch verhindern.
Hartmut Bitomsky legt Schicht um Schicht eines uns vermeintlich bekannten Phänomens frei. Er sammelt in Interviews und Bildmomenten wissenschaftliche Fakten und alltägliche Notizen, verfolgt detailliert Produktions- und Forschungsprozesse und zieht historisches Film- und Fotomaterial heran. Sein Zugriff ist umfassend und universal, sein Verfahren geprägt von Brücken und Brechungen. Nichts ist nur das, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Immer neue Assoziationen und Verknüpfungen werden im sinfonischen Fluss des Off-Kommentars und der Montage zutage gefördert und stellen unser Wissen und unsere Wahrnehmung auf den Prüfstand. Staub ist mehr, als wir bislang zu kennen und zu sehen glaubten.Mark Stöhr
D / CH 2007, 90 Min. R: Hartmut Bitomsky