Wolke 9

Vorstellungen vom 04.12.2008 bis zum 23.12.2008.

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Liebe und Sex jenseits der 60. Andreas Dresens in Cannes gefeiertes Werk ist ein Stück deutsches Kino von phänomenaler Kraft.

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Abseits des Wettbewerbs von Cannes gab es in den Nebenreihen „Un certain regard“ und "Semaine de la Critique" zahlreiche weitere Filme mit deutscher Beteiligung zu sehen. Besonders interessant dabei dürfte vor allem die Aufnahme des neuen Films von Andreas Dresen sein, der mit Sommer vorm Balkon einen der großen deutschen Kinohits der letzten Jahre ablieferte und zeigte, dass sich künstlerischer Anspruch und beste Unterhaltung keineswegs ausschließen müssen.

In seinem neuen Film Wolke 9 thematisiert Andreas Dresen ein Thema, das einerseits nah am Puls der Zeit und andererseits immer noch mit einem Tabu behaftet ist – Liebe und Sexualität im Alter.
Inge und Werner sind schon seit langem ein Paar, sie ist Mitte Sechzig, er jenseits der Siebzig. Die Ehe und das Leben miteinander sind ein wenig eingerostet, aber was will man nach so vielen Jahren noch erwarten. Doch dann passiert es: Inge trifft den 76-jährigen Karl und verliebt sich in ihn. Und mehr noch: Sie gibt diesen Gefühlen nach, lässt sich treiben, verhält sich kaum anders als ein verliebter Teenager.
Ihre Ehe hält dies nicht aus...

Die Nähmaschine rattert. Inge verlässt ihre Wohnung, setzt sich in eine Tram und steht wenig später Karl gegenüber. An der Türschwelle des verdatterten Mannes meint sie wenig überzeugend, ohnehin gerade in der Gegend gewesen zu sein. Ein solcher Spruch – ganz Alltagsklischee – klärt die Situation. Von jenem Moment an, schon nach wenigen Minuten des Films, ist die Grundkonstellation klar. Inge begehrt diesen Mann. Unbeholfen bittet der sie in seine Wohnung, macht sich unten herum frei, um die gekürzte Hose zu probieren. Der Kamerablick auf ihn ist ein voyeuristischer. Dass sich hier erotische Energie entladen wird ist so logisch wie zwangsläufig. Wenig später fallen die beiden übereinander her.

Die Anordnung erinnert an Patrice Cheréaus Berlinale-Gewinner Intimacy (2001): Ohne Exposition und Erklärungen wird der Zuschauer Zeuge der sexuellen Annäherung zweier Fremder. Dabei ist Intimität ohnehin ein Schlüsselbegriff in Dresens Oeuvre. Die Digitalkamera ist immer nah am Geschehen, was heißt: nah an den Figuren.

Werner steht nackt vor seinem Notebook. Ungezwungene Alltagsnormalität. Inge hat er nicht viel zu sagen, lieber widmet er sich alten Platten mit Originaltönen ehrwürdiger DDR-Züge, der Berliner Zeitung oder anderer Lektüre. Die Rollenverteilung ist klar: Intellektuell nimmt er seine Frau nicht ernst. Und dennoch geht er alles andere als lieblos mit ihr um. Eher routiniert und eingefahren. Schließlich sind die beiden seit über dreißig Jahren aufeinander eingespielt. Die letzten Lebensjahre sollte alles so bleiben. Und dann kam Karl.

Inge, über 60, hat sich keinen „Jüngeren geangelt“, wie es ihr Mann vermutet. Karl ist 76. Sie selbst ist auch keine gealterte Diva oder späte Schönheit. Nur eine Frau, die Jahrzehnte davon geträumt hat, sich noch einmal zu verlieben. Und als es passiert, scheint es fast zu spät.

Denn obwohl Scheidungen und allein erziehende Mütter mittlerweile zur gesellschaftlichen Normalität geworden sind, bleiben Trennungen im Alter Einzelfälle. Was man einer Frau um die 40 oder gar 50, gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehfilmkosmos, gerne zugesteht, nämlich einen Neuanfang, scheint jenseits der 60 inadäquat. Genauso, wie älteren Menschen beim Sex zuzuschauen.
Doch nicht nur Frauen wie Sharon Stone in Sliver (1993) masturbieren in der heimischen Badewanne.

Zum Glück geht Dresens Film weit über diesen kalkulierten Bruch mit den Sehgewohnheiten hinaus. Ohne Parteilichkeit ertastet die Inszenierung die Befindlichkeiten aller Betroffenen, hier der drei direkt Involvierten und der Tochter (Steffi Kühnert). Die empfiehlt ihrer Mutter, den Zustand zu genießen, ihrem Mann jedoch alles zu verschweigen. Keine Lösung. Oder doch die beste? Man weiß es nicht und Andreas Dresen auch nicht.

Das direkte Zurschaustellen des eigenen Unwissens, Nicht-Entscheiden-Könnens, ist das eigentliche Wagnis an Wolke 9. Wo man Sympathie- und Empathielenkung gewohnt ist, zeigt Dresen neben der neuen Liebe im Alter auch das Zweifeln, die Unentschlossenheit, die Ohnmacht und den Schmerz. Dabei wirken die mit Worten aus unserem Alltagsgebrauch sprechenden Schauspieler so authentisch, dass Dresens Brillanz in der Inszenierung streckenweise kaum auffällt. Auch einer Beerdigungsszene, beliebtes filmisches Motiv und häufig im Klischeebild erstarrt, kann der Berliner Regisseur etwas Neues und Außergewöhnliches abgewinnen, indem er mit einer einzigen Einstellung auskommt. Beim Kondolieren beobachten wir das Gesicht der Hinterbliebenen.

Dresens Präzision im Schildern eines bestimmten soziokulturellen Milieus ist unerreicht. Das Seniorenstift und der Frauenchor im Prenzlauer Berg vermitteln eine selten zu sehende Alltagsrealität. Allein Karls Wohnung, sein runder alter Tisch mit der Decke, transportieren eine Lebenssituation, über deren Vorgeschichte wir nie informiert werden. Die Liebe im Alter ist vorwärtsgewandt!

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D 2008, 98 Min, R. Andreas Dresen, Mit: Ursula Werner, Horst Rehberg, Horst Westphal, Steffi Kühnert