Lenz
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Der Schweizer Filmemacher Thomas Imbach zeichnet das moderne Porträt eines gequälten Menschen und hat sich für sein Grenzgänger-Drama von Georg Büchners Erzählung inspirieren lassen.
Lenz ist Mitte 30 und Filmemacher, ein Verzweifelter, ein Getriebener. Die ersten Bilder dieses Films kündigen es schon an: dass es hier um ein Drama gehen wird, vielleicht sogar um eine menschliche Tragödie. Ein Mann mit blonder Perücke irrt durch den Wald, leckt die eisigen Wipfel einer Tanne. Ein irrsinniger Einstieg, dem eine gewöhnliche Begegnung folgt: Lenz besucht seinen Sohn Noah (Noah Gsell) in Zermatt. Von dessen Mutter, Natalie (Barbara Maurer), lebt er getrennt. Das Wiedersehen sorgt für gemischte Gefühle. Aber es gibt auch viele Momente der Harmonie, dann schimmert ein leises Familienglück durch.
Aber Lenz ist schizophren; immer wieder zieht es ihn mitten in der Nacht hinaus in die kalte, eisige Winterlandschaft. Lenz schläft ein mitten im Schnee, seinem Sohn sagt er später: Er habe versucht, sich mit den Vögeln zu unterhalten. Dann wieder spricht er in Bademantel und Pantoffeln Winterurlauber an, bietet ihnen Suppe an und Schokolade. Einmal unterhält er sich mit einem Paar aus Dänemark über Lars von Trier, fragt Passanten nach einer Wohnung. Der Spielfilm verdichtet sich in diesen Szenen hin zum Dokumentarischen und Lenz' Irrsinn gewinnt durch diese kontrollierten Einbrüche des Realen eine eigenartige Authentizität.
Hauptdarsteller Milan Peschel, der unübersehbar vom Theater kommt, erweist sich als Glücksfall. In seinen großen, traurigen Augen spiegelt sich die ganze hoffnungslose Orientierungslosigkeit seiner neurotischen Figur wieder. In vielen Momenten ist er wie ein kleines Kind: fordernd und hilflos zugleich, und alles bis zum Anschlag. Eine sehr bewegliche Kamera, die meist nah an den Protagonisten bleibt, unterstreicht die Haltlosigkeit und die chaotische mentale Verfassung der Hauptfigur. Die Montage der Bilder scheint dabei keiner stringenten Dramaturgie zu folgen, vielmehr sind die einzelnen Szenen wie zusammenhangslose Augenblicke miteinander verbunden, und dazwischen immer wieder: Einstellungen von einem übermächtigen Matterhorn, das erhaben und dämonisch zugleich über allen Dingen thront.
Der Schweizer Filmemacher Thomas Imbach ("Happiness Is a Warm Gun", 2001) hat sich von Georg Büchners Erzählung "Lenz", erschienen 1839, inspirieren lassen. Ihm ist es gelungen, diese verstörende Geschichte eines psychisch kranken Menschen filmisch umzusetzen. Er lotet dabei Elemente des Fiktiven als auch des Dokumentarischen aus; sämtliche Landschaftsbilder sind beispielsweise auf Film gedreht, der Rest auf Video. Das ergibt ein in mehrfacher Hinsicht eigenwilliges Porträt, ein Einzelschicksal, das vielleicht beispielhaft ist für das kollektive Empfinden einer modernen Generation, die in einer Welt, in der alles möglich ist, lebt, aber an deren Unverbindlichkeit zugrunde geht. So wie Büchner in der literarischen Vorlage macht uns auch Imbach am Ende keine Hoffung, sein Film bricht ab mit dem bekannten Satz: "So lebte er hin".
[br-online.de]
Thomas Imbachs „Lenz“ ist das sperrige, faszinierende Psychogramm eines Mannes, das sich einer klassischen Dramaturgie entzieht und die Geschichte durch Bilder und Situationen erzählt – ohne offene Fragen zu beantworten. Mit dieser Art des Filmemachens können sicherlich die Wenigsten etwas anfangen, und trotzdem – oder gerade deswegen – verdient „Lenz“ das Prädikat „sehenswert“.
[filmstarts.de]
D/CH 2006, 96 Min, R: Thomas Imbach, Mit: Milan Peschel, Noah Gsell, Barbara Heynen, Barbara Maurer u.a.